Essay

Wohnen — ein Plädoyer für eine ganzheitliche Sicht

Grafik: Marie Enders

  • Autorin: Christa Reicher
  • Grafik: Marie Enders

400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen hat die neue Bundesregierung sich zum Ziel gesetzt, insgesamt 1,6 Millionen Wohnungen in der laufenden Legislaturperiode. Welche Bauherren engagieren sich für welche Wohnformen? Wie lässt sich die Schaffung von Wohnraum mit den Klimaschutzzielen in Einklang bringen? Und welche Konzepte sind für das Wohnen der Zukunft sinnvoll und nachhaltig?

Die Illustrationen erschienen in der Publikation „Stadtbaustein Wohnen“ von Christa Reicher und Anne Söfker-Rieniets, Springer Verlag 2022.

Derzeitigen Prognosen zufolge wird die Zahl der Haushalte bundesweit bis zum Jahre 2035 um mehr als eine Million wachsen und der Anteil der Ein- und Zwei-Personen-Haushalte von 75 Prozent auf weit über 80 Prozent steigen, wodurch sich die Nachfrage nach Wohnraum insgesamt stark erhöhen wird. Während in schrumpfenden Städten und Regionen Leerstand zu verzeichnen ist, bleibt die Nachfrage nach Wohnraum in den Ballungszentren ungebrochen hoch. Nach wie vor gilt die Devise „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“, aber nicht um jeden Preis. Es gibt innerstädtische Flächen, auf denen die Nachverdichtung eine gute Lösung ist, auch höher und dichter als bisher, sodass auf dem wertvollen Boden möglichst viele Wohnungen errichtet werden können.

Klimasensible Flächen sollten allerdings von Bebauung freigehalten werden, um „grüne Lungen“ in der Stadt zu erhalten, Biodiversität herzustellen und gesundheitsfördernde Bedingungen zu gewährleisten. Die soziale Frage wird noch viel zu oft gegen die ökologische Frage ausgespielt. Dabei bedeutet „mehrfache“ Innenentwicklung für das Wohnen, eine qualitätvolle Dichte mit nutzbaren und ökologisch wertvollen Freiräumen, einer guten Anbindung an den ÖPNV sowie ambitionierten energetischen und baukulturellen Standards zu verbinden.

Wohnungsnahe urbane Freiräume fördern das Stadtklima, machen die Natur erlebbar und stärken die Identifikation mit dem Quartier. Grafik: Anna Santora, Dominique Ramrath

Investoreninteresse am geförderten Wohnungsbau

Wohnen ist ein Grundrecht der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Versorgung, zugleich wird die Wohnung zunehmend zu einem Investitionsobjekt. Lange galt der öffentlich geförderte und preisgedämpfte Wohnungsbau als zu renditeschwach für Investoren und institutionelle Anleger. Das hat sich mittlerweile geändert, weil die Nachfrage steigen wird, Leerstand kaum zu erwarten ist und die Renditen sich den konventionellen Immobilien angenähert haben. Nicht zuletzt bekennen sich Investor:innen verstärkt zu ihrer sozialen Verantwortung und widmen sich gesellschaftlichen Fragen wie der Errichtung von altersgerechten und barrierefreien Wohnungen. Und die Erkenntnis setzt sich durch, dass zukunftsfähige Konzepte die Bezahlbarkeit der Wohnung mit Serviceangeboten auf der Quartiersebene verknüpfen müssen.

Wohnungsbau ist Städtebau

Die sozialen, räumlichen und gestalterischen Aspekte des Wohnens finden ihren Niederschlag nicht nur in der Wohnung selbst, sondern in ihrem erweiterten Wohnumfeld. Guter Wohnungsbau ist demnach mehr als das einzelne Haus: Der Städtebau, die verkehrliche Anbindung, die Versorgungsangebote und die Gestaltung der Zwischenbereiche auf der Quartiersebene haben einen entscheidenden Einfluss auf die Wohnqualität und das soziale Miteinander der Bewohner:innen. Das Quartier mit seinem sozialen und räumlichen Gefüge kann Nachbarschaft fördern und Heimat bieten. Letztlich wird eine gute Wohnatmosphäre maßgeblich durch den Ort mit seinen sozialen und gemeinschaftlichen Aktivitäten, möglichst für alle, geprägt.

Home-Office und das Wohnen

Home-Office scheint zur neuen Normalität zu werden. Während der Pandemie ist die Standard-Wohnung – insbesondere die kleine Wohnung ohne unmittelbaren Zutritt zum Freiraum – an ihre Belastungsgrenze gekommen. Wo zuvor „nur“ gewohnt wurde, musste sie jetzt auch Platz bieten für das Arbeiten, das Home-Schooling und vieles mehr. Dieser Entwicklung können wir entgegensteuern, indem wir stärker auf Nutzungsneutralität und Anpassungsfähigkeit achten. Und diese veränderten Anforderungen müssen auch in den Bestimmungen des öffentlich geförderten Wohnungsbaus ihren Niederschlag finden.

Der Innenraum wird nach außen ausgedehnt, der Außenraum optisch nach innen geholt. Grafik: Laura Vonhoegen

Bestand als Ressource

Im Gebäudesektor werden etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen verursacht. Ob also Deutschland bis 2045 klimaneutral wird, hängt maßgeblich vom Gebäudesektor und damit vom Energieverbrauch und nachhaltigen energetischen Konzepten im Wohnungsbau ab. Im besten Fall produzieren Wohnbauten zukünftig Energie. Doch bisher hat der Gebäudesektor weitestgehend mit dem linearen Wirtschaftsmodell „nehmen, herstellen und verschwenden“ agiert. Dieses gängige Wirtschaftsmodell muss durch ein Modell der Kreislaufwirtschaft ersetzt werden, bei dem Instandhaltung, Wiederverwendbarkeit und Ressourceneinsparungen Vorrang haben. Neben der Sicherung des Bestandes spielt der bedarfsgerechte Umbau eine zunehmende Rolle. Durch die Umwandlung von nicht mehr nachgefragten Büros in Wohnraum können Studien zufolge gerade in den Innenstädten mehr als 200.000 Wohnungen entstehen. Realisierte Umnutzungsprojekte zeigen, dass dieser Umbau zu akzeptablen Kosten und in der Konsequenz mit bezahlbaren Mieten möglich ist.

Flexibilität und Gemeinschaft

Im Zuge der Pluralisierung der Haushaltsformen und Lebensstile verändert sich auch die Nachfrage nach Wohnraum. Insgesamt nehmen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an diese sich ändernden Rahmenbedingungen an Bedeutung zu. Die Nachfrage nach gemeinschaftlichen und generationenübergreifenden Wohnmodellen steigt. Diese Wohnmodelle können dabei zweierlei leisten: Sie sparen Wohnfläche und fördern Kommunikation und Austausch. Zugleich können die Wohnung und ihr Umfeld mit Begegnungsräumen und Versorgungsangeboten wesentlich dazu beitragen, dass Menschen sich zu Hause fühlen und eine gute Nachbarschaft entsteht. Wir müssen also Wohnraum schaffen, den Menschen so lange wie möglich nutzen können, auch wenn sich die Rahmenbedingungen ändern.

Die Zukunft des Wohnungsbaus?

In der aktuellen Debatte über die Zukunft des Wohnungsbaus werden vielfältige Wege aufgezeigt und Ambitionen aufgerufen. Möglichst schnell errichtet: im serieller Bauweise, mit nachhaltigen Baustoffen in Holz(hybrid)bauweise, im beschleunigten Genehmigungsverfahren, mit höchstem Energiestandard, in urbanen Lagen in der Qualität des Einfamilienhauses im Grünen … Alle diese Erwartungen sind keinesfalls unrealistisch, aber sie müssen stärker zusammengedacht werden. Wir brauchen einen engen Schulterschluss zwischen der Fachexpertise von Planer:innen, den Wohnwünschen der Bewohner:innen, dem Engagement der Investor:innen und der Wohnungswirtschaft sowie der Entscheidungsfreudigkeit der Politik. Nur mit einem ganzheitlichen Blick kann der Quantensprung in der Wohnungsfrage gelingen.

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